Der Wechsel etwa vom hoheitlichen Christusbild des 1. Jahrtausends zum Bild des mitmenschlichen, ja elenden Christus im Laufe des Mittelalters ist nicht nur unübersehbar, sondern gibt auch produktiv zu denken: Christus in Herrschertracht und -pose repräsentiert auch das Arrangement zwischen Kirche und politischer Macht; "Christus im Elend" spiegelt auch das Elend der Leute.

Ikonographische Feststellungen führen oft zu Frageimpulsen von hoher Motivationskraft: Warum ist Jona das beliebteste Thema in der Katakombenmalerei? Warum ist anfangs der tote (Seitenwunde!) Christus am Kreuz als lebender, mit offenen Augen dargestellt? Was bedeutet es in bezug auf das Papsttum, wenn Petrus im Bild stärker hervorgehoben wird als im zugehörigen Text und umgekehrt? Was hat es zu bedeuten, wenn Gottvater eine päpstliche Tiara trägt (Þ Bildbeispiel: Bernt Notke, Dreifaltigkeit, um 1483) oder eine Kaiserkrone? Seit wann und warum lassen die Maler Paulus vor Damaskus vom Pferd fallen, obwohl von einem Reittier im Text keine Rede ist? Wieso gleichen sich die Gesichtszüge Christi auf verschiedenen Bildern seit dem 5./6. Jahrhundert immer mehr? Warum ist der Schlüssel das Attribut des Petrus und das Schwert das des Paulus? Warum kommt der Engel Gabriel in der Verkündigungsszene in der Regel von links? Und was könnte dann die "Verkündigung von rechts" bedeuten? Müssen Engel Flügel haben? Aber wozu brauchen sie die "Jakobsleiter" (Gen 28,12)? Und wieso wird Johannes der Täufer auf Ikonen geflügelt dargestellt? Warum trägt Mose gelegentlich Hörner auf dem Kopf? Warum wachsen auf Marienbildern diese Blumen und nicht andere? Wie kommen die vier Evangelisten zu ihren Symbolen (Mensch, Löwe, Stier, Adler)? Welchen Symbolwert haben Farben? Wieso ist es auf ca. 98 % der Schöpfungsbilder nicht Gottvater, der erschafft, sondern Christus?

Die Zahl solcher Fragen ließe sich beliebig vermehren. Für die christliche Ikonographie stehen zur Klärung bewährte Nachschlagewerke zur Verfügung. Da es um Wissen geht, das dem Bild nicht direkt zu entnehmen ist, gehören ikonographische Kenntnisse zu dem, was die Lehrenden den Lernenden zur Verfügung stellen müssen.

In der christlichen Kunst war der Druck der Tradition immer sehr groß. Deshalb bedürfen schon kleine Abweichungen von überlieferten Mustern der Erklärung. Als methodische Hilfe gilt der Bildvergleich (so wie in der Bibeldidaktik mit Hilfe des synoptischen Vergleichs das Eigenprofil einer Perikope leichter erkannt werden kann).

Ikonographische Quellen sind neben der Bibel weitere, vor allem erzählende oder betrachtende fromme Texte. Für die "Vorgeschichte" Jesu und Marias müssen u.a. die sog. Apokryphen herangezogen werden. Dort werden z. B. (unter Hinweis auf Jes 1,3) Ochs und Esel an die Krippe Jesu versetzt. In der franziskanischen Tradition, bei Birgitta von Schweden, bei Ludolf von Sachsen (beide 14. Jahrhundert) wird das Leben Jesu so konkret meditiert und werden die Anschauungslücken des Evangeliums so detailliert gefüllt, daß von daher neue Darstellungsweisen in der Kunst aufkommen, z.B. liegt das Jesuskind danach nicht mehr in Windeln gewickelt "auf Heu und auf Stroh", sondern nackt auf dem nackten Erdboden (Þ Bildbeispiel: Hugo van der Goes, Anbetung der Hirten, 1477). Bis zur Reformationszeit und im katholischen Bereich noch darüber hinaus ist damit zu rechnen, daß der lateinische Bibeltext der Vulgata für die Bilder maßgeblich ist (sie übersetzt z.B. Ex 34,29f fälschlich so, daß daraus die Mose-Hörner erklärbar sind). Bis in unser Jahrhundert ist der neutestamentliche Bezugstext übrigens nach Art einer Evangelienharmonie verstanden worden, so daß es meistens wenig hilfreich ist zu fragen, ob im Bild die Lukas- oder Matthäus-Version (z.B. der Seesturmgeschichte) gemeint sei.