Sowohl bei der Kreuztragung Christi, wie auch bei seiner Entkleidung ist die ragende Leiter so auffällig, daß die Frage nach ihrer speziellen Bedeutung sich aufdrängt. Auffällig ist in der Szene der Kreuztragung schon das geradezu lächerliche Aussehen und der freche Blick des Leiterträgers sowie seine Stellung innerhalb der Komposition des Ganzen: er kontrastiert dem Gesicht Christi. Aber auch ohne ihn ist seine Leiter sprechend: "In Passionstraktaten wird neben anderen Geräten auch die Leiter genannt, die zur Annagelung Christi bei aufgerichtetem Kreuz und bei der Aufrichtung des Kreuzes unbedingt benötigt wird. Zudem zählt die Leiter zu den Arma Christi, den Passionswerkzeugen, die auch für spezielle Andachten in Bildern vergegenwärtigt wurden. Insofern weist die mitgetragene Leiter unmißverständlich auf Christi Leiden und Kreuzestod hin. Die letzten Sätze eines Gebets in der "Vita Christi" des Ludolf von Sachsen, das an den Christus der Kreuztragung gerichtet ist, mögen belegen, wie sehr Kreuz und Leiter als Sinnbilder gleicher Bedeutung und als signifikantes Symbolpaar begriffen wurden. Der Abschnitt lautet etwa wie folgt: `Barmherziger Heiland, der Du Dein Kreuz selber getragen hast, gib, daß ich Dir treu folge, und mach, daß auch ich mein Kreuz, das ich um meiner zahlreichen Sünden willen verdiene, mutig trage und es von ganzem Herzen umarme. Und gib, daß ich mich meines Kreuzes wie einer Leiter bediene, um schließlich die himmlische Herrlichkeit zu erlangen. Amen.`

Neben dieser Bedeutung wird mit der Leiter noch ein zweiter, heilsgeschichtlicher Aspekt verbunden, denn sie erinnert an den alttestamentlichen Traum Jakobs von der Himmelsleiter (Gen 28,10-17). Folglich können die Leitern auf den Karlsruher Tafeln der Kreuztragung und der Annagelung Christi auch als Symbole einer Verbindung zwischen Himmel und Erde, Gott und den Menschen begriffen werden und, im Zusammenhang mit Christi Passion, auf seine Überwindung des Todes in der Auferstehung und auf seine Himmelfahrt vorausweisen. In den typologischen Bildhandschriften ist der Jakobstraum der alttestamentliche Typus zum neutestamentlichen Antitypus der Himmelfahrt; in denen der Biblia pauperum ist dieselbe Begebenheit der Typus zur Darstellung des Paradieses." (Aus dem Katalog 1996 zur Karlsruher Passion, S. 76; 82 ff).

Im Bild der Entkleidung Christi weckt das von Maria ihrem nackten Sohn umgehaltene Lendentuch unsere Aufmerksamkeit. Sicher ist, daß zu römischen Zeiten die Delinquenten nackt gekreuzigt wurden, und ausdrücklich wird die Entkleidung Jesu vor seiner Hinrichtung erwähnt (Joh 19,23). Da schon die frühesten Darstellungen des Gekreuzigten (im 5. Jahrhundert!) ihn mit einem Lendentuch bekleidet zeigen, handelt es sich bei diesem Tuch nicht um ein historisches Requisit der Kreuzigung Jesu, sondern um eine Zugabe des christlichen Glaubens der Hersteller bzw. Auftraggeber solcher Kreuzigungsdarstellungen: Das Lendentuch macht etwas von der Würde sichtbar, die der Gekreuzigte - trotz aller Erniedrigung - für den Glauben hat.

Im späteren Mittelalter genügte diese anonyme Liebesbezeugung durch den Maler nicht mehr; sie wurde Maria, der Mutter Jesu zugeschrieben, die ihren Schleier nimmt, um Jesu Blöße damit zu bedecken. Und das heißt dann auch: Im Anblick des Gekreuzigten mit Lendentuch sah der spätmittelalterliche Christ, wenn ihm diese Legende geläufig war, zugleich etwas von dem mütterlichen Mitleiden (der compassio) der Mutter des Herrn. (Näheres siehe im Katalog S. 90-96.)

Auf derselben Bildtafel der Entkleidung Christi fällt ein Junge auf, der auf einen Baum gestiegen ist, um von oben herab alles mitansehen zu können. "Das Motiv des Jungen im Baum gehört spätestens seit dem 11. Jahrhundert zu den geläufigen Bildelementen von Darstellungen des Einzugs Christi in Jerusalem (Þ Bildbeispiel: Duccio, Einzug in Jerusalem) die seitdem in der Malerei des Abendlandes häufig nachzuweisen sind, darunter auch Kompositionen, in denen das Motiv sogar doppelt oder noch öfters vorkommt. Mitunter wird statt des Jünglings auch ein kleiner Mann, der Zöllner Zachäus, im Baum dargestellt. - Umfangreiche Passionsfolgen beginnen oft mit dem Einzug Christi in Jerusalem. Er wird als ein glorreiches Ereignis im Leben Jesu geschildert, weswegen auch der Junge im Baum als verherrlichendes Motiv gilt, zumal er nicht nur Zuschauer ist, sondern meist noch Zweige bricht, die dem Einziehenden zum Gruß auf den Weg gestreut wurden.

Nach unserer derzeitigen Kenntnis gibt es keine zweite überlieferte Darstellung der Entkleidung Christi, in der dieses Triumphmotiv noch einmal vorkommt. Es ist nicht nur als erzählerisches Bildelement zu begreifen. Beläßt man ihm seine ursprüngliche Bedeutung und verbindet diese mit der leidens- und heilsgeschichtlichen Aussage der Entkleidung, der größten Schmach, die Christus während seiner Passion erdulden mußte, so weist der Junge im Baum voraus auf die triumphale Auferstehung und Himmelfahrt Christi, die seiner Marter auf Golgatha, dem Tod am Kreuz und der Grablegung folgen. - Wie die Dornenkrone auf dem Haupt des Heilands nicht nur als Symbol des Spotts und der Leiden, sondern als verherrlichendes Zeichen begriffen wird, so soll der andächtige Betrachter unserer Tafel in dem erniedrigten Christus zugleich auch den zukünftigen Sieger über den Tod erkennen." (Aus dem Katalog, S. 96.)

Die Bilder der Karlsruher Passion enthalten noch weitere Details solcher Art, die hier nicht mehr vorgestellt werden können. An den zitierten Beispielen aus dem Katalog der Kunsthalle in Karlsruhe zeigt sich übrigens auch, daß Kontexte aus der Frömmigkeitsgeschichte herangezogen werden können und müssen, um den "Sitz im Leben" der Bilder zu erfassen und so aus ihnen klug zu werden.