Als Beispiel einer professionellen Bildbeschreibung wählen wir aus dem Katalog zur Karlsruher Passion die Szene der Entkleidung Christi.

"Nackt, die Dornenkrone auf das Haupt gepreßt und blutend steht Christus, ein Bild des Elends, am Ort seiner Hinrichtung, inmitten der dichtgedrängten Menge schwer bewaffneter und gerüsteter Soldaten, Kriegsknechte, Juden und Schaulustiger. Der eilige Zug, in dem sie den schwankenden, fallenden Kreuzträger vorangetrieben haben, ist auf Golgatha zum Stehen gekommen. Doch ist Christus keine Rast gegönnt. Schon haben zwei rohe Knechte dem Erschöpften zur Vorbereitung der Kreuzannagelung das Gewand über den Kopf gezogen und zerren es ihm nun von seinen vorgestreckten Armen. Unter den harten Griffen eines bis zu den Zähnen Bewaffneten, der bei der Entkleidung teilnimmt, indem er Christus von hinten packt und an sich zieht, scheint der Wehrlose vor Angst und Schmerzen zusammenzuzucken und die höhnenden Worte des hämischen Turbanträgers, der an dem Strick um seinen Hals zieht, nicht zu hören. Still erleidet Christus die mit seiner Entkleidung verbundenen Qualen. - Gemäß vieler Passionsschilderungen des hohen und späten Mittelalters, war der Rock Christi auf der Innenseite fest verhaftet mit den getrockneten Wunden, die man ihm bei der Geißelung zugefügt hatte und die beim Abziehen des Kleides wieder aufbrachen und bluteten...

Von seinen Peinigern sich abwendend, kehrt Christus sein leidvolles Antlitz - es ist das eigentliche Zentrum des Bildes - dem Betrachter zu und scheint ihn anzublicken. Auch ist es, als wolle er sich ganz umdrehen, denn hinter ihm steht Maria, gestützt von dem Jünger Johannes und begleitet von zwei heiligen Frauen. Mit dem Ausdruck stummer Klage hat sie sich ihrem Sohn genähert und hält, ein Akt des Erbarmens und tätigen Mitleidens, ein weißes Tuch um seine Lenden. Da sie es zusammenbinden möchte, Christus aber im selben Augenblick in den Knien einsinkt und sich nach vorne beugt, also in die Richtung, in die ihm die Schergen das Gewand abreißen, wirkt es, als ziehe Maria Christus zu sich hin. Dieser Eindruck wird noch dadurch betont, daß der Schwung ihres Körpers zu ihm hinführt, daß beide sich beinahe berühren und ihre Köpfe einander zugeneigt sind. Maria und Christus, die in Leiden und Trauer miteinander verbunden sind, bilden auch innerhalb der verzahnten Komposition eine von wenigen Überschneidungen kaum gestörte formale Einheit, da beide in sinnfälliger Weise durch das Lendentuch zu einer Doppelfigur eng verbunden sind. Zusammen mit dem Soldaten, der Christus ergreift und an sich preßt, bilden sie in der linken Bildhälfte den Gegenpol zu den drei Schergen auf der rechten Seite, die Rock und Halsschlinge Christi ohne Erbarmen zu sich in die Gegenrichtung ziehen...

Hinter der brutalen Szene im Vordergrund bilden die Köpfe, Glieder, Helme und Hüte der Soldaten und des übrigen Volkes eine hohe, undurchlässige Mauer. Sie wird überragt von drei Berittenen, die das Geschehen aus einiger Entfernung verfolgen. An ihren fremdländisch wirkenden Kopfbedeckungen, die aus Spitzhüten, Turbanen, Stofflappen sowie gezackten und geschlitzten Krempen bestehen, sind sie als ein Hoherpriester mit seinen Begleitern gekennzeichnet. Als weiterer Zeuge der Entkleidung erscheint in einiger Entfernung vor dem blauen Himmel ein Junge in rotem Rock, der aus Neugier einen grünenden Baum erklommen hat. Rings um ihn herum ragen Spieße, Hämmer, Äxte und Hellebarden in die Luft. Wie diese mörderischen Waffen, so deutet auch die oberhalb von Christi Haupt in den Himmel weisende Leiter unmißverständlich auf die Richtstätte und den nahen Kreuzestod Christi. Daran mag auch der kreuzförmige Streithammer zu Füßen des Todgeweihten erinnern; ...

Statt einer topographischen Schilderung des Ortes, bietet der Maler eine größtmögliche Fülle und Vielfalt an Köpfen mit überzeichneten Mienen, an buntfarbigen Kostümen, vielgestaltigen Helmen und Hüten, blinkenden Waffen, vielteiligen Rüstungen und sonstigem Beiwerk. Auf diese Weise werden Getümmel und Lärm, Erregung und entfesselte Willkür des rohen Kriegsvolks eindringlich vergegenwärtigt. Inmitten dieses wohlkomponierten Chaos´ steht, eine Mahnung zum Einhalten für den Betrachter, der erbarmenswerte, entblößte Christus. Zu ihm und zu denen, die um ihn trauern und von Ernst und Rührung erfüllt sind, kehrt der Blick des Betrachters immer wieder zurück, um dort zu verrweilen." (Katalog S.90 - 92)