Die Meinung, Bilder in den Kathedralen des Mittelalters hätten
als "biblia pauperum" gedient, muß in mehreren Hinsichten in Frage
gestellt werden: Wir wissen praktisch nichts davon, wer die des Lesens
unkundigen Laien mit den Bildern vertraut gemacht haben und wie das vor
sich gegangen sein sollte. Die Bildinhalte waren weitgehend Sache der gelernten
Theologen. Die Bilder spiegeln offensichtlich nicht den Wortlaut der Bibel,
sondern fungieren als Predigt - als Pointierung und Aktualisierung
des im Schriftwort Gehörten oder Gelesenen. Selbst die Bilderbibel,
die unter dem Titel biblia pauperum läuft, ist nicht als Bibel
für Analphabeten geeignet: Sie enthält auf jeder Seite neben
den Bildern Texte (meistens sogar in lateinischer Sprache) und hat als
klar erkennbare Intention, die alttestamentlichen "Vorbilder" für
neutestamentliche Ereignisse aufzuzeigen. Die sogenannte Armenbibel dient
also dem, was wir heute typologische Exegese nennen. Bestenfalls bezeugen
Bilder der christlichen Kunst der Vergangenheit also das jeweilige epochale
und regionale Verständnis der hl. Schrift; sie zeigen, was davon in
der jeweiligen Situation angekommen ist und vom Volk angenommen wurde.
Sie gehören insofern eher in den Kirchengeschichtsunterricht als in
den Bibelunterricht.